Wie gut bereitet der Stochastikunterricht auf Alltag, Studium und Berufsleben vor? Die Diskrepanz zwischen Schule und Realität an den Beispielen 'natürliche Häufigkeiten' und 'Signifikanztests'

Autor: Weber, Patrick
Rok vydání: 2020
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DOI: 10.5283/epub.43330
Popis: Seit einiger Zeit wird in der Mathematikdidaktik der Anwendungsbezug der unterrichtlich behandelten Inhalte betont. Insbesondere der Stochastikdidaktik kommt hier eine Schlüsselrolle zu, da in der heutigen Informationsgesellschaft der geschulte Umgang mit realen Daten von hoher Bedeutung ist. In der vorliegenden kumulativen Dissertation wird anhand zweier virulenter Themengebiete (der natürlichen Häufigkeiten sowie der Signifikanztests, welche beide auf dem Konzept der bedingten Wahrscheinlichkeiten aufbauen) der Frage nachgegangen, ob der Stochastikunterricht das Desiderat eines verstärkten Realitätsbezugs und damit einer adäquaten Vorbereitung auf Alltag, Studium und Beruf aktuell erfüllen kann. In einer ersten empirischen Studie (Artikel 1) wird dazu überprüft, ob die seit rund 25 Jahren in der kognitionspsychologischen und mathematikdidaktischen Forschung vielbeachteten natürlichen Häufigkeiten mittlerweile „in den Köpfen der Schüler“ angekommen sind, das heißt in sogenannten Bayesianischen Aufgaben korrekt verwendet werden. Dabei ist vor dem Hintergrund der Anwendungsorientierung zu erwähnen, dass der vereinfachende Effekt des Häufigkeitsformats bereits in der Risikokommunikation in unterschiedlichen Situationen in zunehmendem Maße genutzt wird – beispielsweise in Informationsbroschüren für Patienten über den Nutzen und die Risiken medizinischer Testverfahren –, aber bislang noch nicht in der Schule. Die Studie mit N = 180 Studierenden konnte zeigen, dass viele Teilnehmer gegebene natürliche Häufigkeiten in die aus der Schule bekannten, aber kognitiv ungünstigen Wahrscheinlichkeiten übersetzen und in der Folge die Aufgabe nicht mehr richtig lösen können. Dementsprechend ist der entscheidende Prädiktor für die Performanz nicht wie bisher angenommen das Format, in dem die Aufgabe gestellt wird (Präsentationsformat), sondern das Format, mit welchem die Aufgabe zu lösen versucht wird (Rechenformat). Die Ergebnisse unterstreichen, dass aufgrund der aktuell einseitigen Behandlung von Wahrscheinlichkeiten im Stochastikunterricht einfache Lösungswege überblendet werden können. In Artikel 2 wird die Thematik des ersten Artikels erweitert, indem natürliche Häufigkeiten zunächst begrifflich über ihre Anwendbarkeit in Bayesianischen Aufgabenstellungen hinaus auf den statistischen Bereich generalisiert werden. Insbesondere wird anhand verschiedener empirischer Studien gezeigt, dass natürliche Häufigkeiten als numerische Darstellungsart von Anteilen und Unsicherheit in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen häufiger vorkommen als die im aktuellen Stochastikunterricht fokussierten gewöhnlichen Brüche und Dezimalbrüche. Außerdem wird eine bislang fehlende schulmathematische und stoffdidaktische Analyse des Häufigkeitsformats vorgenommen. Beispielsweise wird aufgezeigt, wie die natürlichen Häufigkeiten formal-mathematisch definiert werden können, welche schulrelevanten Eigenschaften sie besitzen (z. B. können mit ihnen nur Zahlen zwischen Null und Eins dargestellt werden) und welche Rechenoperationen mit ihnen unter welchen Umständen möglich sind. Basierend auf diesen Ergebnissen werden Implementierungsvorschläge für eine vernetzte Behandlung natürlicher Häufigkeiten im Sinne des Spiralcurriculums unterbreitet. Im dritten Artikel wird die aktuelle Diskrepanz von Stochastikunterricht und Realität am Beispiel der kontrovers diskutierten Signifikanztests in den Blick genommen. Dazu wird herausgearbeitet, (I) welche Arten von Hypothesentests (II) unter Berücksichtigung welches Testprozederes (III) in welchen Kontexten im Schulunterricht beziehungsweise in Anwendungssituationen verwendet werden. Verschiedene Analysen und empirische Kurzstudien zeigen hier eine Kluft zwischen Stochastikunterricht und Realität auf: Die in der Schule aktuell ausschließlich behandelten einseitigen Binomialtests werden in der Realität kaum eingesetzt. Ebenso weicht die schulische Vorgehensweise beim Hypothesentesten von der Forschungs- und Anwendungswelt ab: Während im Stochastikunterricht die Berechnung von Ablehnungsbereichen ohne Bezug zu realen Daten im Mittelpunkt steht, werden in der Realität p-Werte berechnet, um eine bestimmte Datenlage besser beurteilen zu können. Auch schulübliche Kontexte für Signifikanztests spiegeln sich nicht in der tatsächlichen Anwendungswelt wider: Beispielsweise werden in den klassischen Schulbuchkontexten „Lebensmittelhandel“ oder „Qualitätskontrolle elektronischer Bauteile“ in Wirklichkeit keine inferenzstatistischen Verfahren verwendet. Daher erfordert ein moderner Stochastikunterricht eine Neuausrichtung hin zu mehr realen Daten, will er seinem Anspruch auf Realitätsbezug wirklich gerecht werden. Detaillierte Vorschläge für eine solche Anpassung des Curriculums finden sich in Artikel 3.
For some time now, the real-world applications of the contents taught in class have been emphasized in mathematics education. Teaching statistics in particular plays a key role here, since in today's information society the correct interpretation of real data is of great importance. In the present cumulative dissertation, on the basis of two virulent topics (natural frequencies as well as significance tests, both of which are based on the concept of conditional probabilities) the question is investigated whether statistics education can currently fulfil the desideratum of an increased orientation on real-world applications and thus an adequate preparation for everyday life, university studies, and working life. In a first empirical study (Article 1), it is examined whether natural frequencies, which have been investigated in cognitive psychology and mathematics education for about 25 years, have meanwhile "arrived in the students' minds", i.e. whether they are correctly used in so-called Bayesian tasks. Regarding application orientation, note that the simplifying effect of the frequency format is already being used increasingly in risk communication in different situations - for example in information brochures for patients on the benefits and risks of medical test procedures - but not yet in school. The study with N = 180 students was able to show that many participants translate given natural frequencies into the cognitively more demanding probabilities they know from school and are consequently no longer able to solve the task correctly. Accordingly, the decisive predictor for performance is not, as previously assumed, the format in which the task is presented (presentation format), but rather the format with which the task is attempted to be solved (calculation format). The results underline that due to the current one-sided treatment of probabilities in statistics education, the simpler solution strategy of using natural frequencies is often neglected. In article 2 natural frequencies are conceptionally generalized beyond their applicability in Bayesian problems to the statistical domain. In particular, it is shown on the basis of various empirical studies that natural frequencies occur more frequently as numerical representations of proportions and uncertainty in the media than, e. g., fractions and decimal numbers. In addition, a comprehensive mathematical and didactical analysis of the frequency format, which has been lacking up to now, is carried out. For example, it is shown how natural frequencies can be defined mathematically, what school-relevant properties they possess and what arithmetical operations can be performed with them. Based on these results, suggestions on how to implement natural frequencies into the spiral curriculum are presented. In the third article, the current discrepancy between statistics education and reality is investigated using the example of the controversially debated significance tests. For this purpose it is examined for both the mathematics classroom and real-world applications which types of hypothesis tests are used in which contexts. Moreover, the respective test procedures are compared for both fields. Various analyses and empirical studies show a gap between statistics education and reality: The one-sided binomial tests that are currently exclusively treated in school are only rarely used in reality. Similarly, the school approach to hypothesis testing deviates from real-world testing procedures: While at school, the focus lies on the calculation of critical regions without reference to real data, in reality p-values are calculated in order to better assess a certain data situation. Even contexts for significance tests that are typical in school books are not reflected in actual applications: For example, in the classic textbook context of "quality control of groceries", in practice no inferential statistical methods are used at all. Therefore, modern statistics education requires a reorientation towards more real data if it really wants to meet the desideratum of an increased focus on practical applications. Detailed proposals for such an adaptation of the curriculum can be found in Article 3.
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