Der internationale Diskurs über die 'agrarische Übervölkerung' Südosteuropas vor und während des Zweiten Weltkriegs

Autor: Innerhofer, Ian
Jazyk: němčina
Rok vydání: 2011
DOI: 10.25365/thesis.17574
Popis: Die Dissertation verwendet einen wissenschaftshistorischen Ansatz um den internationalen Diskurs über die „agrarische Übervölkerung“ Südosteuropas vor und während des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen. Beginnend mit der Entwicklung des Übervölkerungskonzepts während des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts analysiert sie, wie der Begriff „agrarische Übervölkerung“ benutzt wurde, um tatsächliche oder vermeintliche Missstände in Südosteuropa (insbesondere in Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien) zu benennen. Kapitalmangel, die vorherrschende Subsistenzwirtschaft, niedrige Produktivität, mangelhafte Rationalisierung der Landwirtschaft, das Fehlen von Fachpersonal, Arbeitslosigkeit und andere wirtschaftliche Fragen, die mit der Ansicht einer „Unterentwicklung“ Südosteuropas verbunden waren, wurden unter diesen breit akzeptierten Terminus zusammengefasst. Letzten Endes kann jede politische oder ökonomische Krise in ein „Bevölkerungsproblem“ umgedeutet werden. Die Einbettung in den historischen Kontext hilft, die Rolle der Debatte in der Beziehung zu anderen Diskursen wie Rassismus, Geopolitik oder Eugenik und zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Interessen und Entwicklungen herauszuarbeiten. Auf der Basis eines Vergleichs der angedachten Maßnahmen zur Lösung der südosteuropäischen „Bevölkerungsfrage“, untersucht die Dissertation das enge Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Das Konzept der „agrarischen Übervölkerung“ wurde oft von allen möglichen Seiten benutzt, um politische und wirtschaftliche Ziele zu legitimieren, wie die Bemühungen um Autarkie durch Industrialisierung der südosteuropäischen Eliten. Unter dem Schlagwort „Mitteleuropa“ hatten die deutschen Eliten Südosteuropa seit längerer Zeit in der Einflusssphäre Deutschlands gesehen. Dies war insbesondere von Bedeutung für die Entwicklung des Konzepts der „agrarischen Übervölkerung“ durch deutsche Wissenschaftler. Kennzeichnend dafür waren zahlreiche Hinweise auf die „Rückständigkeit“ und „Inferiorität“ Südosteuropas sowie die unterstützende Rolle, welche Deutschland spielen könnte, um den „Bevölkerungsdruck“ auf dem Balkan zu „erleichtern“, z.B. durch die Ausbeutung der südosteuropäischen Bevölkerungen als Wanderarbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. So war die Vorstellung einer „Übervölkerung“ Teil einer Rechtfertigung politischer Ziele wie der Einbeziehung Südosteuropas in Deutschlands Großwirtschaftsraum. Der Diskurs über die „agrarische Übervölkerung“ Südosteuropas vor und während des Zweiten Weltkriegs war Teil eines größeren Modernisierungsdiskurses und wurde nach 1945 zur Basis für westliche Analysen der demographischen Probleme der sogenannten Entwicklungsländer.
The dissertation uses a history of science approach to explore “The international discourse on the ‘agricultural overpopulation’ of Southeastern Europe before and during World War II”. Starting from the development of the concept “overpopulation” in the 19th and early 20th century it examines how the term “agricultural overpopulation” has been used to misname assumed or actual grievances in South East Europe (especially in Yugoslavia, Romania and Bulgaria). Missing investment capital, the predominance of subsistence farming, low productivity, the lack of rationalization in the agricultural structure, the lack of a skilled workforce, unemployment and other economic issues connected to the view that the region is underdeveloped have been summarized under this broadly accepted notion. In the end, every political or economic crisis may be redefined as a “population problem”. The embedding into the historical context helps to work out the role of the debate in relation to other discourses like racism, geopolitics and eugenics and to various political and economic interests and developments. On the basis of a comparison of suggested solutions of the Southeastern European “population question”, the dissertation investigates the close relationship between science and politics. The concept of “agricultural overpopulation” was often used by all possible sides to legitimize political and economic goals, such as the Balkan elites’ efforts of industrialization to attain autarky. Under the slogan Mitteleuropa, German leaders had long considered South-eastern Europe to be in their nation’s sphere of influence. This was particularly important to the German researchers’ development of the concept of “overpopulation”. A notable feature of this process was the use of terms indicating the inferiority of Southeastern Europe, such as “backward” and “underdeveloped”, and the helping role Germany could play to “alleviate” its “population pressure”, e.g. the exploitation of the Southeastern populations as workforce in the Nazi war economy in Germany. Thus the idea of “overpopulation” was part of a justification of political goals as the inclusion of Southeastern Europe in Germany’s greater economic area (Großwirtschaftsraum). The discourse on the “agricultural overpopulation” of Southeastern Europe before and during the Second World War was part of a larger modernization discourse and became the basis for the Western analyses of the demographic problems in so called developing countries after 1945.
Databáze: OpenAIRE