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Gilt ‚Belesenheit‘ heute als langst anachronistisch gewordenes bildungsburgerliches Ideal, so spurt der diskurstheoretisch und praxeologisch argumentierende Beitrag dem Obsoletwerden dieser Tugend im Umfeld der 68er-Bewegung nach, konkret in der Fruhgeschichte des damals neu etablierten literaturwissenschaftlichen Grundstudiums. Um Ganzheitlichkeit auch in einer Einheit von (Theorie-) Diskurs und Lebenspraxis zu erreichen, lassen die Organisatoren des Grundstudiums und Verfasser der neuen Einfuhrungswerke eine systematische und weit ausgreifende Lekturepraxis hinter sich zugunsten einer theoriebewehrten Lekture von nun als exemplarisch ausgewiesenen Einzeltexten, die freilich weitgehend nach wie vor dem Kanon entnommen sind. Primartextlekture besitzt nun ausschlieslich heuristischen Wert, lauft oft nur noch uber Textauszuge. In letzter Konsequenz geht es im neuen Grundstudium – so etwa dem Marburger Modell – um die theoretisch begrundete Lebenspraxis, nicht mehr um ‚Bildung‘ fur die ‚Begabten‘ oder um eine autonom gedachte Welt der ‚Dichtung‘. Der Paradigmenwechsel zeigt sich auch an der sich explosionsartig ausbreitenden Einfuhrungsliteratur fur das Grundstudium. Anders als Karl Otto Conradys kanon- und bildungsfreudiges Ubergangsprodukt von 1966 offnen sich die mitunter jahrzehntelang erfolgreichen Einfuhrungen der 1970er Jahre dem Telos ‚Theorie und Methode‘ sowie einer Kultur des Happchenlesens. Die Frage nach dem (Selbst-) Zweck der Primartextlekture kehrt indessen in den Kanondebatten wieder, so um 2000. |