Poesie, Philosophie und ihre Peripetien

Autor: Durs Grünbein
Rok vydání: 2023
Zdroj: Zeitschrift für Ideengeschichte. 17:115-119
ISSN: 1863-8937
DOI: 10.17104/1863-8937-2023-1-115
Popis: Henri Bergson träumte einmal, er sei Sigmund Freud. Und Freud sah sich im Traum in der Rolle Friedrich Nietzsches. Und Nietzsche erkannte sich, bevor er seine Briefe mit Dionysos oder Der Gekreuzigte unterzeichnete, in René Descartes wieder, dem ersten Icherzähler der Philosophie. In seiner ersten großen Aphorismensammlung, in der vom Traumdenken die Rede ist, lässt er ihn für sich sprechen – «An Stelle einer Vorrede». Jakob Böhme, ein einfacher Schuster und Visionär, träumte, er sei mit Jesus Christus durch alle Höllenpforten des Geistes gegangen. Er konnte von sich sagen, dass er bei Tag oder Nacht in einer Viertelstunde mehr gesehen habe, als wenn er viele Jahre auf hohen Schulen gewesen wäre. In seiner mystischen Daseinsfülle waren ihm Traum und Wachen ein und dasselbe. Das sind die Denker, die bei den Dichtern ankommen. Im Traum begegnen auch Philosophen sich in der Rolle des Anderen, hinter geschlossenen Lidern erscheinen die Körper austauschbar, wird Seelenwanderung zum Erlebnis. Anders gesagt: zur unwiderlegbaren Erfahrung.
Databáze: OpenAIRE