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In keiner anderen medizinischen Disziplin spielt die Dimension des Sozialen eine so bedeutende Rolle wie in der Psychiatrie. Dies ist zu allererst durch die psychischen Erkrankungen selbst begrundet, die sich unabhangig von ihrer biologischen und psychologischen Basis in ihrer Symptomatik nicht primar als Veranderungen physiologischer Parameter, sondern als Storungen der sozialen Interaktionen zwischen den Betroffenen und ihrer Umwelt darstellen. Diese verandern sich so erheblich, dass die Erkrankten als unverstandlich, fremd, nicht mehr „sie selbst“, eventuell sogar als gefahrlich wahrgenommen werden. Deshalb losen psychische Erkrankungen spontan eher Unverstandnis, Angst und Ablehnung als spontanes Mitgefuhl aus. Die Symptome psychischer Krankheiten sind ebenso wie der gesamte Krankheitsverlauf nicht unabhangig von der sozialen Umgebung, sondern werden durch sie gunstig oder ungunstig beeinflusst und stehen in einer komplexen Wechselwirkung zu ihr. Dabei greifen einfache kausale und eindimensionale Modelle wegen der Vielschichtigkeit der Problematik zu kurz: belastende personliche Beziehungen, Arbeitslosigkeit, der Verlust nahe stehender Personen, soziale Isolation oder Wohnungslosigkeit sind weder Stressfaktoren, die eine psychische Erkrankung begrunden, noch austauschbares „Hintergrundrauschen“ eines eigengesetzlichen, rein biologisch determinierten Prozesses. Vielmehr interagieren eine biologische Matrix, eine psychologische Reprasentanz und eine soziale Umgebung miteinander, wobei von einer relative Eigenstandigkeit der drei Systeme auszugehen und die Art ihrer gegenseitigen Beeinflussung noch weitgehend unbekannt ist (Richter et al. 1999). |