Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit - psychische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert

Autor: Rinkes, Ulla
Jazyk: němčina
Rok vydání: 2020
Předmět:
DOI: 10.17904/ku.opus-595
Popis: „Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit - psychische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert“ 1, Zielsetzung des Forschungsvorhabens Tausende Mirakelberichte und unzählige Votivtafeln zeugen noch heute von psychischen Erkrankungen sowie deren erfolgter „Heilung“ in der Vergangenheit. Sie werfen Fragen nach den dahinterliegenden individuellen Schicksalen, den Krankheitsbildern, deren Behandlung sowie dem gesellschaftlichen Umgang mit psychisch kranken Personen in ihrer Entstehungszeit auf. Die Thematik wurde bis dato jedoch weder in der Psychiatriegeschichte noch in der Europäischen Ethnologie/Volkskunde qualitativ oder quantitativ hinreichend wissenschaftlich untersucht. Diese Forschungsdefizite bildeten den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit mit dem Titel „Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit - psychische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert“. Ziel war es, vertiefte Erkenntnisse über psychische Erkrankungen in der Zeit vor Beginn einer institutionalisierten Psychiatrie zu erlangen und zu einer differenzierteren Sichtweise der historischen Lebenswirklichkeit psychisch kranker Personen zu gelangen. Im Zentrum des Forschungsinteresses standen die Identifikation und Charakterisierung der auftretenden psychischen Erkrankungen sowie der therapeutische Optionenraum zur Behandlung derselben. Der thematische Schwerpunkt lag dabei auf der Heilkultur des religiösen Systems, da diese im Kontext psychischer Erkrankungen bislang nicht umfassend untersucht worden war. Das Forschungsfeld wurde zudem auf die Analyse gesellschaftlicher Vorstellungen von, und Umgangsweisen mit, psychisch kranken Personen ausgeweitet. Die quantitative und qualitative Analyse von historischen Mirakelbüchern, als bis dato in diesem Kontext nicht bearbeitetem Quellenkorpus, sollte entscheidend zum Erkenntnisfortschritt beitragen. Zudem wurde die Eignung eines neuen methodischen Ansatzes zur Lösung des psychiatriehistorischen Problems, dass, vor Beginn einer institutionalisierten Psychiatrie, kaum Informationen über „gewöhnliche“ psychisch kranke Personen, jenseits von Adel und Delinquenten, vorhanden sind, erprobt. Ausgehend von den, in den Mirakelbüchern und Votivtafeln dokumentierten, Votationsakten wurden, unter Verwendung archivalischer Quellen, die Kranken- und Lebensgeschichten von Einzelpersonen als historische Biographien rekonstruiert. Die vorliegende Arbeit hat sich, zusätzlich zu ihrer volkskundlichen und psychiatriehistorischen Ausrichtung, in einen multidisziplinären Diskurs mit der Medizingeschichte, der Ethnologie, der Kulturanthropologie, der Historischen Anthropologie, der Alltagsgeschichte, der Mikrohistorie, der Historischen Demographie, der Soziologie und der Philosophie, begeben. Auf diesem Weg konnte die Universalität einiger verbreiteter psychiatriehistorischer Theorien kritisch hinterfragt und eine adäquatere Beurteilung des gesellschaftlichen Umgangs mit psychischen Erkrankungen vor Beginn der modernen Psychiatriegeschichte ermöglicht werden. 2, Aufbau der Arbeit Kapitel 1 „Einleitung: Psychische Erkrankungen und religiöse Therapien als Forschungsthema“ beginnt mit einer einleitenden Darstellung von Forschungszusammenhang und wissenschaftlichem Forschungsstand sowie der Verortung des Themas an der Schnittstelle von Europäischer Ethnologie/Volkskunde und Psychiatriegeschichte. Desweiteren werden Zielsetzung und Forschungsfragen detailliert dargestellt und es wird das interdisziplinäre Untersuchungsdesign mit einer Kombination von makro– und mikroanalytischen Elementen erläutert. Nur durch Einbezug des kulturellen Kontexts können die zeitgenössischen Krankheitsbilder, Therapieversuche und die dem Umgang mit psychisch kranken Personen zugrundeliegenden Handlungsmotive adäquat interpretiert werden. Daher werden in Kapitel 2, „Thematische Hinführung: Der historische Kontext“, zunächst Hintergrundinformationen zu Untersuchungsraum und -zeit sowie Kultur und Lebensweise der altbayerischen Bevölkerung vermittelt. Danach folgt ein Überblick über das religiöse System in Altbayern im Spannungsfeld zwischen „verordneter“ und „gelebter“ Religion, verbunden mit einer Erläuterung des Wallfahrtswesens als zeitgenössischer praxis pietatis. Die Betrachtung von psychischen Erkrankungen und, insbesondere religiösen, Therapieformen erfolgt sodann in den drei großen Sektionen des Ergebnisteils aus unterschiedlichen Distanzen. Kapitel 3, „Psychische Erkrankungen in Altbayern im 17. und 18. Jahrhundert auf der Grundlage der Mirakelbücher“, beginnt mit Erläuterungen zu psychischen Erkrankungen als historisch und kulturell bedingten Phänomenen. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der zeitgenössischen Terminologie diskutiert und es wird auf Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen in den Mirakelbüchern eingegangen. Im Anschluss werden die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Metaanalyse der 179 Mirakelbücher vorgestellt. Die zur Untersuchungszeit auftretenden psychischen Erkrankungen werden in ein Modell den fünf übergeordneten Krankheitskategorien „Anfallsleiden“, „Spielarten des ‚Wahnsinns‘“, „Gemütskrankheiten“, „Angststörungen“ und „Dämonisches Wirken“ integriert. Im Anschluss wird jede Krankheitskategorie en detail hinsichtlich Auftretenshäufigkeit, Unterformen und Charakteristika beschrieben. Abschließend erfolgt ein Überblick über die, den unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zugeschriebenen Ätiologien und zeitgenössischen Krankheitstheorien. Nach dieser Annäherung aus der Perspektive der Metaanalyse werden im folgenden Kapitel 4, „Porträts des Irrsinns – Spiegelungen der psychischen Krankheitsbilder im Individuum“, einzelne psychisch kranke Mitglieder der altbayerischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts vorgestellt. Es wurden detaillierte Einzelbiographien auf archivalischer Basis rekonstruiert, wodurch eine Akzentverlagerung auf die subjektgebundenen Erscheinungsformen psychischer Erkrankungen im historischen Alltag erfolgte. Die sechs ausgewählten Lebensbilder gewähren Einblicke in eine potenzielle historische Realität, in der individuelle Erfahrungen und Reaktionsweisen in Erleben und Umgang mit psychischen Erkrankungen sichtbar werden. Die aus den Lebensbildern abgeleiteten qualitativen Hypothesen über den Umgang mit psychisch kranken Personen zur Untersuchungszeit wurden sodann in Kapitel 5, „Der therapeutische Umgang mit psychischen Erkrankungen mit Fokus auf dem religiösen System“, auf breiterer Basis validiert. Der Abschnitt beginnt mit einem Überblick über die vielschichtige Heilkultur des 17. und 18. Jahrhunderts, die neben dem akademischen Medikalsystem über eine reiche medikale Laienkultur verfügte. Im Anschluss werden die zeitgenössischen religiösen Praxen bei psychischen Erkrankungen beschrieben und es wird die therapeutische Wirkung von Wallfahrten diskutiert. In diesem Kontext wird auch auf die Initiatoren der Wallfahrten als zentrale „Knotenpunkte“ der sozialen Netzwerke psychisch kranker Personen eingegangen. Zudem werden Heilbehandlung und Pflege am Wallfahrtsort thematisiert und es werden „Spezialwallfahrten“ für psychische Erkrankungen mit hochspezialisiertem Behandlungsrepertoire vorgestellt. Abschließend werden die Ergebnisse der religiösen Therapien kritisch diskutiert sowie geistliche Übungen und symbolische Formen der Frömmigkeit als Objektivationen der subjektiv erfahrenen „Heilungswirklichkeit“ besprochen. Im finalen Kapitel 6, „Zusammenfassung und Epilog: Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit – Psychische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert“ werden die wichtigsten Erkenntnisse der verschiedenen Untersuchungsetappen noch einmal zusammenfassend diskutiert und die vorab formulierten Forschungsfragen beantwortet. 3, Bewertung der Ergebnisse Die Untersuchung der altbayerischen Lebenswelt des 17. und 18. Jahrhunderts hat vielschichtige Einblicke in Formen psychischer Erkrankungen, deren Behandlung sowie dem Umgang mit psychisch kranken Personen in der Zeit vor Beginn einer institutionalisierten Psychiatrie ermöglicht. Die vorliegende Arbeit hat Zugänge zu den historischen Krankheitskonzeptionen und Therapieformen – mit besonderem Schwerpunkt auf dem religiösen System – rekonstruiert. Das als Forschungszugang gewählte interdisziplinäre Untersuchungsdesign mit einer Kombination von makro- und mikroanalytischen Elementen hat sich für die gewählte psychatriehistorische Fragestellung als hochgradig erkenntnisförderlich erwiesen. Durch die umfassende quantitative und qualitative (Meta-) Analyse der historischen Mirakelbücher konnte erstmals ein Modell psychischer Krankheitskonzeptionen der altbayerischen Alltagswelt des 17. und 18. Jahrhunderts konstruiert werden. Durch die neuen Erkenntnisse konnten bekannte Krankheitskonzeptionen erweitert und selektiv Fehlannahmen in der Fachliteratur korrigiert werden. Neben der symptombasierten Charakterisierung der einzelnen Krankheitsbilder wurde auch ein multikausaler ätiologischer Erklärungshorizont hinsichtlich Ursachenzuschreibungen und Auslösefaktoren psychischer Erkrankungen ersichtlich. Die quantitative und qualitative Analyse der historischen Mirakelbücher, als bis dato in diesem Kontext nicht bearbeitetem Quellenkorpus, hat somit entscheidend zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt beigetragen. Die altbayerischen Mirakelberichte bildeten ein vermittelndes Element, das durch den autopathologischen Blick der Pfarrer den Zugang zu den zeittypischen historischen Krankheitskonzeptionen ermöglichte. Dieser neue Blickwinkel wurde durch die Rekonstruktion historischer Lebensbilder auf Basis von dokumentierten individuellen Votationsakten sowie weiterer archivalischer Quellen noch intensiviert. Der gewählte methodische Ansatz, bei dem Mirakelberichte und Votivtafeln den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Kranken- und Lebensgeschichten von Einzelpersonen bildeten, erwies sich dabei als äußerst fruchtbar. Der Rekurs auf den klassischen volkskundlichen Quellenapparat löst das psychatriehistorische Forschungsdilemma, dass vor Beginn einer institutionalisierten Psychiatrie kaum Informationen über „gewöhnliche“ psychisch kranke Personen, jenseits von Adel und Delinquenten, vorhanden sind. Die Analyse der Mirakelberichte und ergänzender historischer Quellen hat ein facettenreiches Bild psychischer Erkrankungen für Altbayern im 17. und 18. Jahrhundert ergeben und tiefe Einblicke in den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen ermöglicht. Die auf qualitativer Grundlage erlangten Einsichten über den Umgang mit psychisch kranken Personen wurden sodann im weiteren Verlauf der Arbeit auf breiterer Basis validiert. Auf diesem Weg konnte die Gültigkeit einiger tradierter psychiatriehistorischer Theorien für Altbayern im 17. und 18. Jahrhundert widerlegt werden. Durch die Verknüpfung von psychologischen und volkskundlichen Forschungsmethoden konnte die historische Lebenswelt psychisch kranker Personen aus einem veränderten Blickwinkel betrachtet werden. Die Defizite der einzelnen Ansätze wurden gemindert und das Erklärungspotenzial vergrößert. So war es möglich, zu einer differenzierteren Sichtweise der historischen Lebens- und Therapiewirklichkeit psychisch kranker Personen in Altbayern im 17. und 18. Jahrhundert zu gelangen. Bei den erzielten Einsichten handelt es sich zwar nicht um absolute, sondern stets nur um räumlich und zeitlich begrenzte Wahrheiten, um Ausschnitte der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die aus der Analyse der altbayerischen Mirakelbücher und den rekonstruierten Einzelbiographien abgeleiteten Erkenntnisse weisen gesamthaft jedoch über die Situation in Altbayern hinaus. Durch die vorliegende Arbeit erhält so auch das wenig erforschte Gesamtthema psychischer Erkrankungen im 17. und 18. Jahrhundert stärkere Plastizität.
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