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Musil stellt in seinem Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst von 1911 die These auf, dass Kunst zwar als psychisch krank Geltendes zum Ausgangspunkt wählen könne, das Dargestellte jedoch weder unanständig noch krank sei. Mit dieser These provoziert Musil im zeitgenössischen Kontext zweifach: Die Grenzen zwischen «psychisch krank» und «psychisch gesund» werden – zumindest in der Kunst und Literatur – irrelevant. Ja, mehr noch: Kunst (Literatur) transformiert, was in Wissenschaft (Soziologie, Psychologie/Psychopathologie/Psychiatrie, Jurisprudenz) und Gesellschaft als psychisch krank gilt, in etwas, das jenseits der Dichotomie von «krank» und «gesund» liegt und sich insofern arbiträren Beurteilungen («entweder» – «oder») entzieht. Gerade im psychisch Kranken, der anders denkt, anders fühlt, anders wahrnimmt und anders handelt als die Norm, in seiner Alterität steckt für Musil ein Entwicklungspotential des Menschen, das die normierte und normierende Gesellschaft ignoriert und/oder aus Angst vor dem Unbekannten ausgrenzt, indem sie es moralisch verurteilt und kriminalisiert. Insofern ist das erkenntnisleitende Interesse Musils im Essay genuin ethisch; der Erkenntnisgewinn besteht Musil zufolge in der Pluralität von Optionen im Denken, Fühlen und Handeln. Provokant ist nicht nur Musils These selbst, sondern auch und sogar noch provokanter ist der Testfall, an dem Musil seine These exemplifiziert: dem des Sexualmörders Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften. Während beispielsweise ein Psychologe Urteile über den psychischen Zustand eines Menschen eindeutig, das heisst nicht arbiträr und damit wissenschaftlich valide, trifft oder – so Musil – eher meint treffen zu können, beginnen diese im Medium der Literatur, als Dargestelltes, zu oszillieren. Vorliegender Beitrag analysiert Musils Argumentation im Essay mit Bezug auf den Testfall Moosbrugger im Kontext der zeitgenössischen Psychologie und Psychiatrie, zeigt, worin die Spezifik von Musils in seinem Essay formulierte These besteht, und erörtert ihre Validität sowie die Folgen für die Kunst. |