Studien zum wissenschaftlichen Determinismus vor der Entstehung der Quantenmechanik

Autor: Romizi, Donata
Jazyk: němčina
Rok vydání: 2013
DOI: 10.25365/thesis.30747
Popis: Die vorliegende Arbeit möchte durch eine historisch-philosophische Rekonstruktion zu einem besseren Verständnis der Natur und Geschichte des wissenschaftlichen Determinismus beitragen. Der bearbeitete Zeitrahmen erstreckt sich von der Entstehung der klassischen Mechanik bis zu den 1920er Jahren. Eine läufige received opinion erzählt, dass die Entwicklung der Quantenmechanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Wende vom Determinismus zum Indeterminismus in der Physik und im wissenschaftlichen Weltbild bedeutet hat. Doch die Natur, die Geschichte und die Implikationen des ersteren Begriffs, d.h. des wissenschaftlichen Determinismus, sind bisher eher im Dunkel geblieben. Im ersten Kapitel der Arbeit betrachte ich den wissenschaftlichen Determinismusbegriff aus systematischer Sicht. Hierbei entwickle ich u.a. ein analytisches, dreidimensionales „Messsystem“, das eine präzise und gleichzeitig umfassende Aufgliederung unterschiedlicher Formen des wissenschaftlichen Determinismus ermöglichen soll, und die üblichen vagen Unterscheidungen wie „epistemisch vs. ontologisch“ zu ersetzen und ergänzen beabsichtigt. Die systematische Analyse soll zugleich ein Orientierungssystem schaffen, das den Rest der Arbeit strukturiert und der nachfolgenden historischen Untersuchung als Bezugsrahmen dient. Der historische Teil beginnt mit dem Kap. 2, in dem ich versuche, die Form des Determinismus besser zu verstehen, die in der klassischen Mechanik impliziert war (impliziter wissenschaftlicher Determinismus). Diese Form kann anhand ihres ausgeprägten mathematischen Charakters von eng verwandten Konzepten wie dem des Mechanismus oder dem Satz vom zureichenden Grunde unterschieden werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Mechanik lange ein Teil der Mathematik war (sie war keine Physik im heutigen Sinne), und dass sie lange in einem rationalistischen Wissenschaftsverständnis eingebettet war, das den in ihr impliziten Determinismus vor jeglicher empirischen Widerlegung schützte. Im Teil (B) der Arbeit versuche ich zu zeigen, wie der bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin nur implizite wissenschaftliche Determinismus im Rahmen der epistemologischen Reflexion sowie der wandelnden wissenschaftlichen Praktiken in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende um 1900 indirekt aber stark geschwächt wurde. Im Kap. 3 fokussiere ich insbesondere auf jene zunehmend ent-ontologisierende Auffassung der Naturgesetze und der Kausalität und jene Relativierung des Gültigkeitsanspruchs der Prinzipien der Mechanik, die ab dem späten 18. Jh. stattgefunden haben. Die Anfänge der Ersteren verorte ich in der Kantischen „Metaphysik der körperlichen Natur“ und Erkenntnistheorie. Was hingegen die Auffassung der Mechanik und ihrer Prinzipien angeht, betrachte ich die Entstehung und Entfaltung einer konventionalistischen und relativierenden Einstellung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, bei Carl Gustav Jacob Jacobi bis zur Auffassung der Mechanik bei Mach, Hertz und Poincaré. Im Kap. 4 fokussiere ich auf jene Schwächung des wissenschaftlichen Determinismus, die aus der Verbreitung der statistischen Methoden und des statistischen Denkens in den Wissenschaften vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts resultiert (ein Phänomen, das in der Literatur als „Probabilistische Revolution“ bezeichnet wird). Dieser Prozess verlief interessanterweise im Vergleich zu jenem, den ich im Kap. 3 beschreibe, parallel und in eine gegensätzliche, weil ontolgisierende, Richtung: ich beziehe mich dabei auf eine Ontologisierung der Wahrscheinlichkeit und der Unvorhersagbarkeit, die nicht mehr als bloß epistemisch (d.h. auf einen Mangel an Wissen zurückzuführen) wegerklärt werden. Eine besondere Aufmerksamkeit widme ich in diesem Kapitel der Debatte um den „statistischen Determinismus“ im Rahmen der entstehenden Sozialwissenschaften, dem Wandel in der Wahrscheinlichkeitsauffassung und der Entstehung der atomistischen bzw. statistischen Erklärung thermodynamischer Prozesse in der Physik. Der letzte Teil der Arbeit (C) betrachtet eine Zeit – zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1920er Jahren – in der der wissenschaftliche Determinismus explizit wurde und die Determinismusfrage in einem weltanschaulichen und ideologischen Kontext heftig diskutiert wurde. Infolge der genannten „Schwächungen“ des (impliziten) wissenschaftlichen Determinismus hätte dieses Konzept in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon als ziemlich problematisch erscheinen sollen. Während aber die von mir im Teil (B) der Arbeit dargestellte Schwächung des Determinismus indirekt war (man kann einen impliziten Begriff nur indirekt schwächen) und Angelegenheit einer Minderheit von Physikern und Philosophen blieb, wurde der Streit um die Determinismusfrage im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in einer breiten Öffentlichkeit geführt. Dies war wiederum die Folge von zwei Faktoren: erstens hatte der wissenschaftliche Determinismus insofern eine neue, brisante ethische Bedeutung bekommen, als das wissenschaftliche Ideal der Gesetzmäßigkeit auf die Betrachtung des Menschen und seines Handelns erstreckt wurde (und zwar im Rahmen neuer wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Soziologie, der experimentellen Physiologie und der experimentellen Psychologie). Insbesondere geriet der wissenschaftliche Determinismus in den Diskurs um die emotional beladene und weltanschaulich relevante Frage der Willensfreiheit. Der zweite, mit dem ersten verbundene Faktor ist, dass die Naturwissenschaftler sich im 19. Jh. zunehmend als Wissenschaftspopularisierer und public men in der Öffentlichkeit engagierten und sich dabei über die philosophische und weltanschauliche Bedeutung ihrer wissenschaftlichen Theorien äußerten. Die Argumente, die in diesem Rahmen für und gegen den wissenschaftlichen Determinismus vertreten wurden, rekonstruiere ich insbesondere im Kap. 6. Unter den besprochenen Diskutanten finden sich Fechner, Du Bois-Reymond, Helmholtz, Bernard, Ostwald, Haeckel, Boussinesq, Maxwell, Boutroux, Poincaré, Renouvier, James und Peirce. Das 7. Kapitel der Arbeit zieht die Wiener Perspektive auf diese Debatte in Betracht: das Konzept eines „Wiener Indeterminismus“ (Stöltzner, Coen) möchte ich durch die Besprechung einer Figur bereichern, die in der Literatur bisher ziemlich vernachlässigt wurde, jene des Wissenschaftsphilosophen und (späteren) Wissenschaftssoziologen Edgar Zilsel (1891-1944). Dabei rekonstruiere ich zum einen Zilsels indeterministische Begründung des Gesetzes der großen Zahlen und der Irreversibilität physikalischer Phänomene. Zum zweiten betrachte ich seine Wahrscheinlichkeitsauffassung und vergleiche ihre Entwicklung mit der parallelen Entfaltung der Wahrscheinlichkeitsauffassungen von Hans Reichenbach und Richard von Mises. Schließlich dient mir Zilsel als zusätzliche case-study, um die gesellschaftliche und weltanschauliche Seite der Determinismusfrage zu beleuchten.
The present work deals with the (changing) nature and history of the concept of scientific determinism from the dawn of classical mechanics up to the time immediately preceding quantum mechanics. Such a historical-philosophical reconstruction is aimed at (1) signalizing and overcoming the deficiencies of the received opinion on the topic and (2) understanding better a concept which has influenced science from its inception. Before dealing with historical matters I develop in the first Chapter a kind of new, three-dimensional “measurement system” for analyzing any concept of scientific determinism. Many different concepts have been developed in the course of history, and we need a classification system which, on the one hand, is inclusive and broad enough to deal with different concepts, and, on the other hand, makes it possible to differentiate with some precision amongst them. My “measurement system” has three dimensions or parameters: “strength” (of the determining link between different states of the physical system), “depth” (depending on how strong the ontological commitment of the particular concept of scientific determinism is), and “breadth” (referring to the domain or the object, to which a deterministic evolution is ascribed). In the second chapter I discuss briefly some main shortcomings of the received view of scientific determinism. Then I try to identify the “core” of scientific determinism at its origins while at the same time embedding it in the broader historical-cultural context, especially that of the Renaissance. On the one hand I show how the core of scientific determinism was mathematical, and this distinguished it from other related concepts, such as mechanism, the principle of sufficient reason, and the Aristotelian conception of science. On the other hand, I show that it was precisely the support which these related concepts provided to scientific determinism, that together with its mathematical nature endowed it with an incredible resistance against empirical falsification. In the following three chapters I analyze the historic-philosophical development of scientific determinism along the three parameters of my measurement system. In the third Chapter I reconstruct the waning of scientific determinism with respect to its depth. The starting point here is the question about the extent to which the deterministic mathematical descriptions refer. As mechanics developed into analytical mechanics and its mathematical descriptions grew more and more formal, it became increasingly less obvious whether these formal, deterministic structures could be credited with metaphysical reality. Parallel developments within epistemology, starting with Kantian philosophy (with which I deal more in detail), made the deterministic structures (principle, laws, equations, causal relations) appear less absolute and real and more like models, conventions, or other products of reason. A brief consideration of the interpretation of mechanics and its principles by Jacobi, Hertz, Mach and Poincaré shows the implications of these developments. The fourth chapter reconstructs the waning of scientific determinism with respect to the strength of the determining link. Here my work deepens the track opened by Ian Hacking, who interpreted the so-called “probabilistic revolution” in the 19th Century as the main reason for the erosion of determinism. The increasing pervasiveness of statistical methods in the social and natural sciences in the course of the 19th Century gave rise to a conception of scientific laws which could dispense with strict determinism. A new, empirical interpretation of probability (Frequentism) and the statistical explanation of thermodynamic phenomena in physics went so far as to suggest that chance phenomena are a necessary condition for causation and the emergence of natural laws. The last part of my thesis (Ch. 5, 6 and 7) considers the period from the mid-nineteenth century to around 1920, in which the concept of scientific determinism became explicit and was discussed as a world-picture or a world-view – that is, in its maximal breadth. I argue that there were two main reasons for the emergence of an explicit and ideological opposition “determinism vs. indeterminism” at that time. The first was the successful application of the deterministic paradigm to sociology, history, physiology and psychology in the course of the 19th Century, which infused scientific determinism with ethical implications (in particular with respect to the problem of free will, since scientific determinism seemed to deny it). The second, related reason is that in the 19th Century natural scientists became public men, science was increasingly popularized, and scientific issues were increasingly related to life-issues, to worldview-questions, and even to politics. In Chapter 6 I reconstruct the debates on the issue “determinism vs. indeterminism” in such a public, ideological and sometimes even political context. Among the chief protagonists in this debate were Fechner, Du Bois-Reymond, Helmholtz, Bernard, Ostwald, Haeckel, Boussinesq, Maxwell, Boutroux, Poincaré, Renouvier, James und Peirce. The debate on the issue of determinism was equally fervid in Vienna and likewise had also ideological and political implications: Michael Stöltzner and Deborah Coen have pointed to a particular tradition of “Vienna Indeterminism” (Stöltzner), or Viennese liberal probabilism (Coen), which was characterized by a strongly empirical conception of science and by the full acceptance and appreciation of statistical thinking in science. In the last Chapter of my dissertation I focus on the early philosophy of Edgar Zilsel (1891-1944), a philosopher with close ties to the Vienna Circle who has been much neglected in the literature up to now. I argue for the fruitfulness of viewing Zilsel’s philosophy as part of the “Vienna Indeterminism”. First, I show how he gave an indeterministic foundation to statistical and causal knowledge as well as to irreversibility in physics. Second, I inquire into his philosophy of probability and show how it developed in parallel to the philosophies of Hans Reichenbach and Richard von Mises. Finally, Zilsel also turns out to be an additional, relevant case-study for throwing into relief the ideological and political sides of the issue of determinism. The general philosophical implications of these historical explorations for the concept of scientific determinisms are considered in the last Chapter (Ch. 8). Here I argue that no physical theory, no empirical evidence and no experimental confirmation can support or contradict scientific determinism in its non-trivial formulations. The validity of any such formulation depends strongly not only (from the systematical point of view) on the definition of other concepts (like time, physical state, causality etc.), but also on more or less implicit assumptions about the range of validity of deterministic structures and the requirements which a piece of knowledge or a theory must fulfill to be regarded as scientific. These assumptions are clearly subjected to historical change.
Databáze: OpenAIRE