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Am Beginn der Kinderliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg stehen zwei Beispiele fur den spielerischen Umgang mit vaterlicher Erziehungsgewalt, deren Rezeption bis heute unvermindert anhalt und kindliche Gefuhlsmuster pragt: Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und Erich Kastners Das doppelte Lottchen. Beide Romane stehen im Kontext der generellen Depotenzierung mannlicher Macht in den ersten Jahren nach dem Krieg, ehe die Manner und Vater wieder in die alten Autoritatspositionen einruckten, die dann erst Ende der sechziger Jahre im Zuge tiefgreifender Mentalitatsveranderungen in bisher nicht gekannter Weise zur Disposition gestellt wurden. Jetzt wurde evident, was Alexander Mitscherlich bereits 1963 in seiner grundlegenden Studie „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ diagnostiziert hatte: der stetige und unaufhaltsame Erosionsprozes patriarchaler Herrschaftsstrukturen in den arbeitsteiligen westlichen Industriegesellschaften. Mitscherlich spricht vom ‚unsichtbaren Vater‘ und meint damit weniger individuell-familiare Defiziterfahrungen als gesamtgesellschaftliche Prozesse: „Es ist vielmehr an ein Erloschen des Vaterbildes zu denken, das im Wesen unserer Zivilisation selbst begrundet ist und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von geschichtlichen Prozessen erzwungenen Verlust der Anschauung schlagt die Wertung um. “1 Kinder- und Jugendliteratur, die sich Ende des 18. Jahrhunderts als eigenstandige literarische Gattung auch als Medium eines vaterlichen Autoritats- und Erziehungsanspruches etabliert hatte,2 dokumentiert am Ende des 20. Jahrhunderts in ebenso eindrucksvoller Weise den endgultigen Verlust unhinterfragter vaterlicher Dominanz und die Suche nach einem neuen Vaterbild und vaterlichen Selbstbild. Nach einem Blick auf Vaterfiguren bei Lindgren und Kastner werde ich die Frage stellen, wie sich die zunehmende Verunsicherung vaterlicher Rollenidentitat in aktuellen Kinder- und Jugendromanen spiegelt. |