Zum Gedenken an Marius Flothuis (1914-2001)

Autor: Peter Gülke
Rok vydání: 2021
Předmět:
Zdroj: Die Musikforschung. 55:1
ISSN: 0027-4801
Popis: Am 13. November 2001, kurz nach seinem 87. Geburtstag, starb in Amsterdam der Komponist, Musikwissenschaftler und langjahrige kunstlerische Direktor des Concertgebouw-Orchesters Marius Flothuis. Nach einem Studium der Humaniora und der Musikwissenschaft, u. a. bei Bernet Kempers, assistierte er seit 1 937 in der Direktion des Concertgebouw. Wahrend der deutschen Besetzung unterstutzte er judische Mitburger und Freunde, wurde verhaftet und verbrachte knapp zwei Jahre in Konzentrationslagern. Nach der Befreiung arbeitete er als Musikkritiker, kehrte 1 953 in den Concertgebouw zuruck und ubernahm 1955 fur fast 20 Jahre die Leitung, nun auch von der Position her einer der einflussreichsten Manner im hollandischen Musikleben. Von 1 974 bis zu seiner Emeritierung lehrte er Musikwissenschaft an der Universitat von Utrecht. Diese ungewohnliche Lebenskurve eines musikalischen Universalisten, den lediglich als Wissenschaftler zu wurdigen ihn verfehlen hiese, war seit fruhester Jugend von zahlreichen Kompositionen begleitet, fur deren Durchsetzung er selbst wenig getan hat. „Niemand ist verpflichtet, ein Held zu sein" mit diesen Worten eroffnete Flothuis im Marz 2000 ein Rundtischgesprach auf dem Symposion „Musikforschung Faschismus Nationalsozialismus unter faschistischen Regimen" auf Schloss Engers. Seine so unaufdringliche wie unwiderstehliche Autoritat erzwang einen Dialog zwischen Kontrahenten, der zuvor nicht moglich war und im jungst erschienenen Bericht keinen Niederschlag gefunden hat. Nun, da wir wissen, dass es Flothuis' letzter offentlicher Auftritt war, fallt es noch schwerer, dies nicht bedeutungsvoll zu finden. Die deutsche Musikwissenschaft scheint kaum wahrgenommen zu haben, was dieser lautere, genau im Sinn der antiken „prosoche" unerschrockene Mann in seiner sachbezogenen Unbeirrbarkeit reprasentierte und anbot. Flothuis hat bei den nach dem Kriege wieder aufgenommenen Kontakten, nicht immer zur Freude seiner Landsleute, nie auch nur angedeutet, dass es ihn harter als die meisten Partner ankam, Geschehenes geschehen sein zu lassen,er lebte, Bescheid wissend, stark in Standpunkten und enthaltsam in Urteilen, das lebensfreundliche Paradoxon vor, dass wir am wenigsten mit Hilfe der Fakten rechten sollten, mit Hilfe derer zu rechten wir am ehesten berechtigt waren. Er liebte die Musik auf jene existenziellintime Weise, die mit Sachkenntnis beinahe identisch ist; vielleicht hat keiner so viel Musik so gut gekannt wer konkurrieren wollte, hatte, ganz und gar bei Mozart, Schubert und Debussy, keine Chance. Auser einem fabelhaften Gedachtnis -wie oft mag in der KZ-Holle die Vergegenwartigung groser Musik geholfen haben! kamen ihm dabei die Erfahrungen des Kritikers und des fur die Arbeit eines Spitzenorchesters Verantwortlichen zugute, mehr noch die des Komponierenden, der musikalische Details weniger als fixierten Text denn als Vehikel im Prozess, nahezu als Lebewesen begreift. Er liebte die Musik auch als ein Letztes, keiner weiteren Beglaubigung Bedurftiges; asthetisch-philosophisch ausgreifende Deutungen konnte er zugleich anerkennen und der intellektuellen Eitelkeit verdachtig finden,in seiner unpathetisch-konsequenten, der Unmittelbarkeit des Klingenden zugewandten Redlichkeit hielt er es lieber mit einer propadeutisch heranfuhrenden Methode, welche der Musik lassen will, was der Musik ist. Auch sie hat die Arbeit uber Mozarts Bearbeitungen eigener und fremder Werke zu einem Klassiker gemacht und lies ihn eine 1974 erschienene EssaySammlung mit einem unkommentierten, zwischen Monteverdi und Florent Schmitt acht ahnlich bis gleich lautende Zitate erfassenden Katalog beenden die Noten sagen alles Notige; „wovon man nicht sprechen kann, daruber muss man schweigen". Bis zuletzt und sehr selbstverstandlich ist Flothuis mit Jungeren im Gesprach geblieben; als Freund wurde man von ihm eher durch abweichende Meinungen geehrt als durch gleiche; die letzte Krankheit hat er als Moglichkeit wahrgenommen, den eigenen Tod zu akzeptieren. Wahrheitszeugen seines Ranges sind nicht nur in unserem Fach selten es halt schwer, seinem Andenken gerecht zu werden und zu bleiben.
Databáze: OpenAIRE