Der Klimawandel als prätraumatische Belastungssituation

Autor: Michael Schonnebeck
Rok vydání: 2020
Předmět:
Zdroj: Psychotherapeut. 65:14-21
ISSN: 1432-2080
0935-6185
Popis: Kaum eine gesellschaftliche Debatte hat so viel Bedeutung fur das zukunftige Wohlergehen des Menschen wie das Ringen um seine naturlichen Lebensgrundlagen. Zugleich fallt es schwer, das menschliche Handeln salutogenetisch auszurichten, und die Mehrheit verharrt im Status des Abwartens und des Weiter-so. Welche Moglichkeiten hat die moderne Psychotherapie, ihre umfassenden Kenntnisse in der Behandlung schwer dysfunktionalen Verhaltens fur das Management einer ahnlich dysfunktionalen Groskrisenbewaltigung einzubringen, und welche Modifikationen der Methoden und der Therapeutenpersonlichkeiten sind notwendig? Erkenntnisse aus Anthropologie, Neurobiologie und insbesondere Evolutionspsychologie werden genutzt, um ein phylogenetisch begrundetes Modell der gruppalen Bedrohungsbewaltigung zu entwickeln. Mithilfe dieses Modells werden gegenwartige Coping-Strategien untersucht und zukunftige Interventionen entwickelt. Der Entwurf der psychophysischen Stressbewaltigung erklart schlussig das lange Verharren in Untatigkeit („freeze“). Fruhgeschichtlich sinnvolle Wegduckreaktionen bei Ausweglosigkeit machen gesellschaftliche Passivitats- und Gereiztheitsstromungen der Gegenwart plausibel. Ein vorausschauendes Coping bedarf dann imaginativer Kompetenzen zum fraktionierten und personalen Prozessieren, insbesondere durch therapeutisch Kundige. Aufgrund der ebenfalls evolutionar begrundeten Oligosozialitat des Menschen ist der wichtigste Interventionsrahmen die lokale Gruppe. Die gegenwartige Klimakrise erhoht den psychophysischen Stress des Einzelnen und der Gesellschaft. Der Traumatherapie entlehnte Strategien des Durcharbeitens der anterograden Belastungen sind sinnvoll. Aufgrund der besonderen Schwere und Komplexitat solcher Expositionen sind psychotherapeutisch Erfahrene modellbildend zu beteiligen. Entsprechend soll Psychoedukation breit gestreut sein und zum geduldigen, wiederkehrenden Austausch, zum personalen Beistand und zum konstruktiven Umgang mit regressiven Emotionen ermutigen.
Databáze: OpenAIRE